64. Berlinale, 06.02. – 16.02.2014 – Einmal Jury und zurück
Welcher Filmfreund träumt denn nicht davon? Einmal im Leben in einer offiziellen Jury sitzen und einmal einen Preis verleihen, das wär doch was. Unser Autor Reiskorn durfte genau dies erleben und berichtet von der 64. Berlinale als Mitglied der Tagesspiegel-Leserjury.
Schon seit mehreren Jahren beruft der Tagesspiegel pünktlich zur Berlinale eine eigene Leserjury. Insgesamt 130 Interessierte folgtem dem Aufruf, sich dafür zu bewerben und am Ende traf es neun Glückliche. Drei Tage vor offiziellem Beginn der Festspiele wurden alle in der Redaktion zusammengetrommelt, für erste Gespräche, ein kleines Fotoshooting und die Organisation des gesamten Verlaufs. Ein Gruppenfoto und Einzelportraits wurden gemacht, denn schließlich sollte jeder Einzelne nochmal sein Konterfei in der Zeitung wiederfinden können. Die Aufgabe der Jury selbst lautete: Den besten Film der Forumssektion küren. Christoph Terhechte, seines Zeichens Leiter des Internationalen Forums, ließ es sich nicht nehmen, höchstpersönlich der Jury einen mörderischen Fahrplan zu erstellen. 34 Filme, alles internationale wie Weltpremieren, wurden zur Pflicht. Zum Warmlaufen sollten es die ersten zwei Tage drei Filme sein, dann wurde die Dosis auf vier pro Tag heraufgesetzt, um dann für weitere drei Tage bei fünf zu gipfeln. Abschließend gab es dann noch einen Einzelnen zum Runterkommen.
Dies mag auf den ersten Blick enorm anmuten und das war es auch. Aber einige entscheidende Vorteile brachte das kurze Leben als Juror doch mit sich: Zunächst gab es da die “Forums Guest Reception”, in einem Gebäude auf der Rückseite der Potsdamer Platz Arkaden stationiert. Akkreditierte, Filmschaffende, Mitarbeiter und sonstwer konnten sich da frei nach Platzkapazitäten aufhalten und kostenlos Kaffee und Kekse genießen. Außerdem gab es dort einen eigenen Ticketschalter, bei dem man sich bequem und nahezu ohne Warteschlangen Tickets für die Filme seiner Wahl ausdrucken lassen konnte. Ein Angebot, auf das der Juror am Ende seiner Pflichten liebend gerne zurückgriff, um auch noch mehr Filme zu schauen, als er ohnehin bis dato getan hat. Durch das straff vorgeplante Programm musste man sich auch eigentlich nicht im Detail mit dem gesamten Festivalprogramm auseinandersetzen. Stundenlange Vorarbeit zu Hause und während des Festivals konnte man sich auf diese Weise aussparen. Und selbst wenn man todesmutig doch noch was Zusätzliches einstreuen wollte, so blieben ohnehin nur sehr begrenzte Zeit-und Filmoptionen übrig, aus denen zu wählen dann schon deutlich einfacher wurde. Abgerundet wurde das VIP-Treatment dann durch die Jury-Akkreditierung selbst. Wer einmal bei der Berlinale war, weiß: Sitzplatzkarten gibt es nicht, ewig lange Schlangen ewig lange vorher sind da die Regel. Anderweitig Akkreditierte ohne Tickets mussten zusätzlich drauf warten, bis alle Tickethalter Platz genommen hatten, ehe sie noch die restlichen Reihen ganz vorne im Saal auffüllen durften. Man ahnt es sicher schon: Aber als Juror war all dies in ca. 90% der Fälle kein Problem mehr. Mit dem gelben Juryausweis konnte man sich in der Regel an alle Wartenden vorbeidrängeln und direkt in den Saal spazieren. Und als Sahnehäubchen gab es meist formidabel reservierte Plätze. Trotz der enormen Fülle an zu sichtenden Filmen, wurde es so zu einer insgesamt und vergleichsweise sehr entspannten Erfahrung.
Und wie arbeitete man so als Juror? Ganz simpel: Gucken – diskutieren – gucken- diskutieren. Das liest sich zweifelsohne fad, war aber sehr spannend: Alle zwei, drei Filme wurde die eigene Rang- und vor allem Favoritenliste komplett über den Haufen geworfen und in zahllosen größeren wie kleineren Runden vor und im Kino kam es zum gegenseitigen Abtasten der Geschmäcker. War man derselben Meinung, formten sich schnell Allianzen, nur um diese wenig später wieder zerfallen zu sehen. So blieb das Ergebnis bis zur finalen Abstimmung vollkommen unvorhersehbar und dies sorgte für anhaltende Aufregung. Ebenso interessant waren die verschiedenenen, individuellen Herangehensweisen, mit den Filmen fertig zu werden. Dabei waren Notizen eine beliebte Option. Doch während der Autor dieser Zeilen diese konsequent nach dem Film niederschrieb, entschlossen sich andere dazu, diese noch während der Screenings im dunklen Saal zu verfassen. Manche widmeten für kurze Momente ihre ganze Aufmerksamkeit dem leeren Blatt, eine andere gestand, “blind” umherzukritzeln…was dann auch mal in Selbstbemalung mündete. Einige hatten nur einen Block, andere hatten sich schon im Vorfeld sorgfältig einzeln zu bewertende Parameter wie “Kamera”, “Schauspiel”, “Geschichte” o.ä. zurechtgelegt und eine andere bastelte sich ein Berlinalealbum, mit Bildern und Inhaltsangaben aus den Programmheften. Einer hatte es sich besonders leicht gemacht: Er sagte, er würde einfach nach Gedächtnis gehen und für den Film stimmen, der ihm am Ende des Festivals noch am besten im Kopf wäre, denn das würde der entsprechende Film dann nicht ohne guten Grund tun.
Wie erwähnt wurden viele Filme gesehen – viele Gute, viele Schlechte, Anstrengende, Langweilige, Traurige, Lustige oder Schockierende. Am Ende konnte es aber nur einen Sieger geben und in der letzten gemeinsamen Diskussionsrunde rauchten die Köpfe vor erhitzten Gemütern, bis sich zwei Finalisten herauskristallisierten: Die eigenwillige wie unterhaltsame tschechische Doku “Velvet Terrorists” und das ebenfalls gelungene Coming-of-Age-Drama “Free Range”. Noch ein letztes Mal wurden leidenschaftlich Argumente vorgetragen, doch am Ende fiel die Auswertung der Stimmzettel deutlich aus. 6:3 für “Velvet Terrorists”, dem diesjährigen Gewinner des Tagesspiegel-Leserjury Preises.
Naiv dachten nun alle Beteiligten, dass damit ihre Pflicht erfüllt sei, doch einen letzten Stress gab es zu bewältigen. In den Minuten nach der Abstimmung sollte noch fix ein Statement formuliert werden. Die sorgfältig und vorausschauend geplanten Kinotermine machten Druck und man befand sich in der mentalen Zermürbung, der Hektik und Müdigkeit am Rande des Blackouts. Nicht so einfach, die Entscheidung auf drei, vier prägnante Sätze runterzubrechen, während einem der “Abgabetermin” im Nacken saß, schließlich wollte der Text noch übersetzt und der Preis mit den richtigen Titeln und Namen graviert werden. Und auch später am Abend war noch Feinschliffbedarf vorhanden und so diskutierte man in einer ruhigen Ecke des Edekas S-Bahnhof Friedrichstraße mit der Chefredakteurin des Tagesspiegel-Kulturteils Christiane Peitz (währenddessen griff sich die freie Hand ein paar Energy-Drinks). So also fühlt es sich im professionellen Journalismus an.
Am vorletzten Tag der Berlinale wurden dann in der saarländischen Landesvertretung die Preise der unabhänigen Juries verliehen, darunter auch verschiedene Leserpreise. Glitz und Glamour suchte man erwartungsgemäß vergeblich, doch auch ohne ließen sich alle von der positiven und feierlichen Stimmung anstecken. Hauptthema von Laudatoren und Dankesreden: Das vortrefflich milde, fast niederschlagsfreie Wetter der gesamten Filmfestspiele. Ansonsten ging die Veranstaltung ohne jegliche Überraschungen sehr zügig vorbei, doch nicht ohne ein persönliches Highlight. Denn als der Tagesspiegel dran war, wurde jeder einzelne Juror namentlich auf die Bühne gebeten, ehe der Preis dann verliehen wurde. Ein surrealer Moment, nun in etliche Kameras zu schauen und Teil der Zeremonie zu sein. Glücklicherweise waren auch alle drei Regisseure persönlich anwesend (einer ist noch die Nacht zuvor extra wieder aus Tschechien zurückgereist), wodurch die Jury Gelegenheit hatte, den Ausgezeichneten persönlich zu gratulieren.
Abgerundet wurde die Berlinale mit dem Screening des Gewinnerfilms am letzten Tag. Für das Publikum glich dieses Screening einer Sneak-Preview, da im Vorfeld natürlich nicht bekannt war, welcher Film denn nun gezeigt werden würde. Dennoch war der Andrang groß. Vor ausverkauftem Saal gaben Frau Peitz vom Tagesspiegel und Herr Terhechte vom Forum eine Einführung in den Abend, ehe sie der Jury das Feld überließen. Zwei Juroren wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, ein paar Worte an das Publikum zu richten und das Gewinnerstatement auf deutsch und englisch zu verlesen – einer war, natürlich, der Autor dieses Berichtes. Also nochmal ganz surreal die Seiten gewechselt, inklusive lautem Herzpochen im sehr heißen Scheinwerferlicht. Eine tolle Erfahrung. Und auch nach dem Screening wurden sowohl sehr positive wie negative Stimmen an die Jury herangetragen, so dass zufrieden das Ergebnis stand, den richtigen Film ausgesucht zu haben, der es dem Publikum nicht zu leicht gemacht hat und durchaus polarisierte.
So ging denn auch die Berlinale 2014 zu Ende. Es war eine sehr spannende und bereichernde Erfahrung, als Juror unterwegs gewesen zu sein und trotz der Geduld, die man für einige Filme aufbringen musste, war es auch eine Erfahrung, die man jederzeit wiederholen möchte. Es bleiben die Erinnerung an neue Bekanntschaften, viele interessante wie feurige Diskussionen und natürlich…jede Menge Filme. Am Ende wurden es übrigens 41.
Wirklich gut geschriebener Artikel der Spaß macht!
Als wäre man selbst dabei gewesen.
Bitte mehr solcher “Tatsachenberichte”.
Gruß
Frank
[...] war zwei Jahre her seit meiner letzten Presseakkreditierung und in der Zwischenzeit war ich durch meinen Gig als Teil einer Leserjury auch ein wenig verwöhnt. Deshalb fiel mir eine kleine Änderungen gleich besonders schlimm auf: [...]