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Winterschlaf

Mittwoch, 24. Juni 2015 · Autor: Reiskorn

winterschlaf_scene196 Minuten und fast ausschließlich lange, ausufernde Dialoge – diese Eckkoordinaten flößen einem schon vor der Sichtung von Nuri Bilge Ceylans 2014er Cannes-Gewinner “Winterschlaf” massiven Respekt ein. Doch wer sich darauf einlässt wird schon bald bemerken, dass sich zum ersten Vorurteil noch Ehrfurcht hinzu gesellt. Und dabei passiert doch eigentlich nicht viel: Aydin (Haluk Bilginer) ist ein ehemaliger Theaterschauspieler und verdingt sich mit einem kleinen, aber schönen Hotel und einigen weiteren Immobilien. Seine deutlich jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) hingegen geht mit einer Spendenaktion für örtliche Schulen ganz eigenen Dingen nach und Aydins Schwester Necla (Demet Akbag) scheint als offizielle Teilhaberin des Hotels nicht viel mehr zu tun zu haben, als den Tag mit Nichtstun zu verleben.

Doch wo Menschen auf überschaubarem Raum über längere Zeit zusammenleben, entstehen Reibungen. Doch nie münden sie in Gewaltausbrüchen – stattdessen sind es die gemeinsamen Gespräche und Diskussionen der Figuren, über die der Zuschauer Zugang zu deren Charakter, ihrer Vergangenheit und ihren sich wandelnden Beziehungen und Ansichten von Welt und Leben erhält. Ein Beispiel: Als Aydin eine Mail mit der Bitte um Unterstützung eines wohltätigen Zweckes erhält, bittet er seine Frau Nihal und einen Freund um Rat. Aydin würde gerne helfen, Nihal nicht und beide sind voneinander überrascht. Während Nihal sich wundert, warum der sonst eher gleichgültige Aydin plötzlich helfen will, fragt dieser sich, warum die hilfsbereite Nihal auf einmal kein Interesse daran hat, Hilfe beizusteuern. Hier werden zu Beginn in nur vereinzelten Sätzen und noch ohne viel Aufregung Konflikte im Film etabliert und gleichzeitig ein Großteil der Vorgeschichte gleich mit angedeutet. Dialoge sind wirklich der Puls des Films und mit ihrer Hilfe beleuchtet Regisseur Ceylan universelle Themen wie Schuld, Reue, Religion, Geschlechterrollen und Generationenkonflikte. Aber auch spezifische Themen wie das archaische Verhältnis von Männern und Frauen in der türkischen Gesellschaft finden sich wieder. Die Figuren bleiben indes ambivalent und erst mit fortschreitender Dauer schält sich ihr wahres Wesen heraus. Aydin gibt sich gern weltoffen, kultiviert und intellektuell, wirkt aber bisweilen borniert und aufbrausend, wenn er argumentativ von den Frauen herausgefordert wird. Mit der Zeit offenbart sich hinter seiner Fassade ein sanft agierender und charismatischer Tyrann, der scheinbar unwissentlich seiner Frau die Luft zum Atmen nimmt. Nihal dagegen erscheint anfänglich kühl und distanziert, mit einer dezenten Überheblichkeit und offenbart aber die größte Verletztlichkeit.

Dass der Film bei der Länge und Dialoglastigkeit nicht langweilig wird und stets interessant bleibt, ist natürlich dem wunderbaren Ensemble zu verdanken, in dem wirklich jeder auf seine Weise zu überzeugen weiß. Und auch visuell beeindruckt “Winterschlaf” mit vielen Totalen, die die hügelige und surreal-schöne Umgebung perfekt einfangen, geschickten Rahmungen und oft stimmigen Licht vom brennenden Ofen, das die Gesichter der Figuren sanft eintaucht. “Winterschlaf” verlangt seinem Publikum Einiges an Aufmerksamkeit und Konzentration ab, belohnt aber mit klugen und spannenden winterschlaf_coverDialogen und nur ganz am Ende entgleitet ihm die sonst kühle und angespannte Atmosphäre etwas zugunsten einer bis dato nicht vorhandenen Prise Süßlichkeit. Das schmälert den Gesamteindruck aber nur minimal und so bleibt “Winterschlaf” ein eindrucksvoller Film.

Zusätzliche Informationen zum Film

Originaltitel: Kis uykusu Land: Türkei, Deutschland, Frankreich Jahr: 2014 Regie: Nuri Bilge Ceylan Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag Weitere Infos: IMDB, Amazon

Redaktion:
★★★★★★★★☆☆ 

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Leser: 9.5/10 (2 Bewertungen eingegangen)
Winterschlaf, 9.5 out of 10 based on 2 ratings

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